„Man sollte den Mut nicht verlieren und sich gegenseitig Kraft geben. Man sollte sich nicht so sehr in eine Sache hineinsteigern, nur weil das Kind adoptiert ist. Andere Kinder haben möglicherweise dasselbe Verhalten.“
Wir haben einen kleinen Adoptivsohn. Er heißt Paul und er ist drei Jahre alt. Er ist nun zwei Jahre bei uns.
Paul kommt aus einem anderen Bundesland, ist damals in einer Bereitschaftspflegefamilie gewesen. Als wir ihn kennenlernten, war er 15 Monate alt. Mit 17 Monaten kam Paul letztendlich zu uns.
2006 war der erste Kontakt zum Jugendamt. Es stellte sich heraus, dass es im Inland, insbesondere im Landkreis Fulda, schwierig ist, eine Inlandsadoption zu absolvieren. Wir haben uns dann nach den Gesprächen für eine Auslandsadoption entschieden.
Wir nahmen Kontakt zu der Auslandsvermittlungsstelle AdA in Eschborn auf und entschieden uns, Geschwisterkinder aus Kolumbien aufzunehmen. Frau George und Frau Plappert kamen zu einem Hausbesuche und erstellten einen Sozialbericht. Glücklicherweise bekamen wir irgendwann Post von dem ICBF, der Kolumbianischen Adoptionsbehörde, dass wir anerkannt waren für ein Geschwisterpaar aus Kolumbien. Bis dahin war das ein sehr langer und auch schwieriger Weg, der immer Höhen und Tiefen mit sich gebracht hat. Wir haben uns gefreut, endlich anerkannt zu sein.
2009 begann für uns die Wartezeit. Wir warteten und warteten. Dann kam ein Anruf. Frau George und Frau Plappert wollten sich gerne mit uns zusammensetzen. Wir erfuhren, dass die Auslandvermittlungsstelle die Regeln geändert hatte. Wir wurden gefragt, ob wir auch ein Kind aus Deutschland adoptieren würden. Es werde für einen kleinen Jungen Eltern gesucht und wir die passenden Eltern für das Kind seien.
Wir haben keine Woche mehr warten müssen, dann klingelte an einem Freitagvormittag das Telefon. Frau Plappert war am Apparat und leitete das Telefonat mit den Worten „Frau Güntz, wollen Sie sich setzen?“ ein. „Ist ihr Mann auch da? Wir haben einen Kindervorschlag für Sie.“ Dann habe ich mich auch gesetzt und habe gar nichts gesagt. Man freut sich so auf diesen Moment. Wenn es dann endlich soweit ist und dann dieser Moment kommt, reagiert man völlig anders. Ich konnte am Telefon nicht viel sagen, und mein Mann war nicht da. Ich habe erstmal versucht meinen Mann zu erreichen, habe eine SMS mit drei Buchstaben gesendet: „SOS“. Er rief dann auch zurück und fragte, was los sei. Ich habe ihm dann nur gesagt: Er ist 15 Monate alt, blond und heißt Paul. Und dann hat mein Mann nichts mehr gesagt.
Wir sind ins Jugendamt gefahren, da wurde uns die Geschichte von Paul erzählt. Wir haben ein Bild von Paul gesehen und uns wurde gesagt, dass der leibliche Vater gerne noch Kontakt zu Paul hätte, also eine halboffene Adoption. Ob wir dazu bereit wären? Wir haben uns bereit erklärt. Als wir das Bild von diesem kleinen, süßen Fratz gesehen haben, war es eigentlich schon rum. Danach haben wir direkt beim Jugendamt in Brandenburg angerufen. Mit der zuständigen Mitarbeiterin haben wir einen Termin vereinbart. Anschließend sind wir zum Jugendamt nach Brandenburg gefahren. Dort wurde uns Pauls Geschichte noch einmal detaillierter erzählt; seine Geschichte, die nicht so leicht ist.
An diesem Vormittag durften wir Paul auch zum ersten Mal sehen. Er kam mit seinen Pflegeeltern auf einen Spielplatz. Sie haben sich dann mit Paul in einen Sandkasten gesetzt und wir standen erstmal noch etwas abseits am Rand, weil uns gesagt wurde, dass wir ganz langsam und vorsichtig machen sollten, erstmal stehen und gucken. Irgendwann sagte die Betreuerin, dass wir hingehen sollten. Das war einer der emotionalsten Momente, die ich je erlebt hatte. Mein Mann saß mit ihm in dem Sandkasten und spielte mit ihm. Es war gar nicht so dramatisch, wie am Anfang beschrieben. Wir hatten auf Grund seiner Geschichte schon ein bisschen Angst. Wir waren nervös und waren ganz vorsichtig. Unser Paul hat dann aber einfach das Zepter in die Hand genommen, er hat meinem Mann die Hand gegeben und ist mit ihm über den Spielplatz gelaufen. Er hatte zwei Tage vorher seine ersten Schritte gemacht und fing an zu laufen.
Paul hatte aufgrund seiner Vorgeschichte eine lange Kontaktanbahnungsphase. Es sollte alles ganz sensibel, vorsichtig und in ganz kleinen Schritten von statten gehen. Wir durften ihn dann bei der Pflegefamilie einmal in der Woche und an den Wochenenden besuchen. Am Anfang war das so, dass wir morgens losgefahren sind, und wir ihn dann eine bis anderthalb Stunden sahen. Die Pflegemutterwar immer mit dabei. Wir sind spazieren gegangen oder waren auf dem Spielplatz, danach mussten wir wieder nach Hause fahren. Am Wochenende haben wir uns dann immer ein Hotelzimmer genommen und waren dann meistens samstags und sonntags da. Am Anfang nur wegen einer Stunde, das steigerte sich, wir durften Paul dann auch nachmittags sehen. Wir haben den Tagesablauf teilweise miterlebt. Die Pflegefamilie hielt die Tür immer offen für uns, und wir waren in ihrem Leben mit dabei, sie haben uns an allem teilnehmen lassen. Die letzten sieben Tage der Kontaktanbahnung waren ganz intensiv. Wir haben bei der Pflegefamilie gefrühstückt, Mittag gegessen und so weiter. Wir haben uns sehr gut mit ihnen verstanden. Wenn Paul nachts wach geworden ist und das Fläschchen brauchte, haben wir im Hotelzimmer einen Anruf bekommen, dass Paul jetzt weint, und wir sind los und haben bei Paul so lange gewartet, bis er wieder ruhig war und geschlafen hat und sind wieder in unser Hotelzimmer gefahren.
Irgendwann kam der entscheidende Tag. Wir durften ihn endlich mit in sein neues Zuhause nehmen. Paul war vorher schon mal zu Besuch mit den Pflegeeltern bei uns für ein Wochenende. Die Pflegeeltern haben mit ihm in einem Hotel gewohnt und auch dort übernachtet, haben aber den ganzen Tag bei uns im Haus mit verbracht. Also kannte er nun schon mal sein zukünftiges Zimmer. Paul hat den Mittagsschlaf bei uns zuhause gemacht. Die Pflegefamilie ist sonntags gefahren und hat Paul leider wieder mitgenommen.
Am 14.12. durften wir ihn endlich mit nach Hause nehmen, in sein neues Zuhause. Ab diesem Tag war durchschlafen für uns ein Fremdwort, das gab es nicht mehr. Paul hatte gar keinen Schlafrhythmus, er war bis nachts um 24:00 Uhr oder 01:00 Uhr wach und war in Action. Wir haben Paul schlafen gelegt und trotzdem war er jede Nacht 5-7-mal wach. Morgens um 07:00 Uhr oder 08:00 Uhr war er auch schon wieder wach und in Action. Das zog sich über viele, viele Monate hin. Wir hatten immer Augenringe, aber wir haben das doch ganz gut hinbekommen. Wir haben das Stück für Stück immer im Halb-Stunden-Rhythmus reduziert und wir haben das irgendwann hinbekommen, dass er abends um 19:00 Uhr in seinem Bett liegt. Er schläft jetzt auch die meiste Zeit durch. Paul geht seit August in den Kindergarten. Es macht ihm unheimlich Spaß. Für mich ist es schlimm, ihn gehen zu lassen. Nun habe ich gelernt, diese vier Stunden, die er im Kindergarten ist, für mich zu nutzen, was in den letzten Jahren eigentlich unmöglich war.“